ARCHIVE, EIN HORT DER INFORMATION UND INSPIRATION

Auszüge aus einem Gespräch zwischen Nur Abbas, Kreativdirektor von Goldwin 0, und Chase Anderson, Dozent und Mitbegründer des „Outdoor Recreation Archive“ (ORA) an der Utah State University.

(24. Juli 2025)

Nur Abbas: Ich glaube, wir hatten 2019 zum ersten Mal Kontakt. Damals haben wir uns auf Instagram ein paar Nachrichten geschrieben. Dabei bin ich auch auf das Outdoor Recreation Archive (ORA) aufmerksam geworden. Wie ist es eigentlich zur Gründung des ORA gekommen?

Chase Anderson: Es begann 2018 als ein Gemeinschaftsprojekt von mir und meinem Kollegen Clint Pumphrey, also nur ein Jahr, bevor wir beide das erste Mal Kontakt hatten. Ursprünglich wollten wir mit dem Projekt lediglich eine Informationsquelle für Studierende schaffen, beschlossen 2019 dann aber, Bilder aus der Sammlung auf Instagram zu veröffentlichen. Auf diese Entscheidung hatte Brian Kelley maßgeblichen Einfluss. Ich weiß nicht, ob Du ihm auf Instagram folgst - jedenfalls hat er eine beeindruckende Sammlung von Broschüren über Nationalparks zusammengetragen.

Nur: Ja, ich habe sein Buch „Parks“, und ich finde es großartig.

Chase: Genau! Seine Entscheidung, die Broschüren auf Instagram zu veröffentlichen, war für uns wie eine Initialzündung. Wir haben dann angefangen, unsere Kataloge auf Instagram zu veröffentlichen, und schnell festgestellt, dass sich nicht nur unsere Studierenden, sondern auch andere Menschen für die Geschichte der Outdoor-Bekleidung interessieren. In einem weiteren Schritt haben wir dafür gesorgt, dass unser Angebot bekannter wird und als wertvolle Informationsquelle wahrgenommen wird.

Nur: Schön, dass Du Brian Kelley erwähnst, denn er hat auch uns sehr inspiriert. Insbesondere mit der Idee, Druckerzeugnisse herzustellen. Zum einen, weil er darauf eingegangen ist, wie diese Unternehmen Druckerzeugnisse einsetzen, was heute aufgrund der Produktionskosten schwierig geworden ist, und zum anderen, wie er sein Archiv weiter publik gemacht und durch die Veröffentlichung seines eigenen Buches noch ergänzt hat. Das wollen wir mit Goldwin 0 auch erreichen: Dokumente, die eine Art Kreislauf bilden, ausgehend von einer Idee und dem vorhandenen Material, um dann wieder darauf zurückzukommen und ein neues Druckerzeugnis zu schaffen, das das Archiv weiter bereichert.

Chase: Wir haben nun auch einen Kreislauf vollzogen und unser eigenes Buch, „The Outdoor Archive“, herausgebracht.

Nur: Du hast mich gebeten, einen Beitrag für Euer Buch zu schreiben. Also habe ich darüber geschrieben, dass ich in meiner Kindheit keinen Zugang zu dieser Art von Informationen hatte. Ich bin in Lincolnshire in Großbritannien aufgewachsen, wo es nur einen einzigen, sehr kleinen Outdoor-Laden gab. Heute können sich die Menschen die gewünschten Informationen viel leichter beschaffen, wie zum Beispiel über Archive. Besonders Dein Archiv ermöglicht einen sehr tiefgehenden Einblick in die Geschichte der Outdoor-Branche. Es ist ein Ort, an dem die Prozesse sichtbar werden, die die Designer durchlaufen haben. So kann man Zeitschriften und Kataloge aus mehreren Jahrzehnten durchblättern. Ich glaube, dass sich die Richtung, die eine neue Generation von Designern einschlägt, schon allein aufgrund der verfügbaren Informationen komplett verändern kann. Es wäre interessant zu untersuchen, wie diese Informationen eine neue Generation beeinflussen und ihre Herangehensweise an die Themen Outdoor oder technisches Design verändern könnten. Die Möglichkeit, sich die Skizzenbücher von Designern anzusehen, die in vergangenen Jahrzehnten bekannte Produkte entworfen haben, ist, wie ich meine, von unschätzbarem Wert.

Chase: Es ist sehr ermutigend, wenn ein Designstudent, der in der Outdoor-Branche arbeiten möchte, zu uns kommt, um mehr über ihre Geschichte und ihre wichtigsten Pioniere, Produkte und Marken zu erfahren. Ich hoffe, dass die Studierenden durch die Beschäftigung mit der Branchengeschichte verstehen, dass sie Teil von etwas Größerem sind, denn diese Branche hat eine sehr lange Geschichte. Heute Morgen zum Beispiel haben wir einige Stücke von Abercrombie & Fitch aus der Zeit um 1900 unter die Lupe genommen. Ich glaube, dass solche Möglichkeiten den großen Erfolg des Archivs mit ausmachen. Wir vermitteln vielen Menschen die Erkenntnis, dass die Branche, in der wir alle tätig sind, deutlich älter als angenommen ist und eine facettenreiche Geschichte hat - viel facettenreicher, als man ihr zutrauen würde. Es ist für die Studierenden sicher sehr motivierend, hierherzukommen und das Gefühl zu bekommen, Teil von etwas Größerem zu sein und das reichhaltige Erbe der Outdoor-Branche und ihrer Pioniere nutzen und weiterentwickeln zu können. Letztlich geht es immer darum, Begeisterung zu wecken. Ob wir nun unsere Studierenden ausbilden oder Menschen außerhalb der Universität Zugang zu diesem Material ermöglichen und ihnen dabei helfen, sich weiterzubilden - es geht immer um Bildung. Kurz, es dreht sich alles um Bildung, Inspiration und den Zugang zu Informationen.

Nur: Der Zugang zu Informationen ist auf jeden Fall ein interessantes Thema. Das Internet und ganz besonders Instagram haben den Zugang zu Informationen erheblich erleichtert. So bin ich überhaupt erst auf Dein Archiv aufmerksam geworden. Allerdings wird vieles von dem, was Menschen online sehen und konsumieren, durch Algorithmen bestimmt, was zwangsläufig zu einer unüberschaubaren Flut an Daten führt.

Chase: Darüber machen wir uns hier auch Gedanken. Der Algorithmus bestimmt zu einem großen Teil, was wir sehen und konsumieren, und das beeinflusst dann unseren Output. Wir haben es genossen, unsere Kataloge zu durchforsten und Bilder online zu stellen, die vorher noch nie zu sehen waren. Der Algorithmus besteht dagegen überwiegend aus recycelten Bildern. Es macht uns Spaß, tiefer zu graben und Dinge zu finden, die bisher noch nicht zugänglich waren.

Nur: Archive sind inzwischen fast schon zu einer natürlichen Ressource geworden. Jeder kann im Netz dieselben Bilder sehen und teilen. Deshalb ziehe ich es vor, direkt zur Quelle zu gehen, sei es ein physisches Archiv oder die Natur selbst. Ich war sehr gespannt darauf, hierherzukommen und mir Originalentwürfe anzusehen. Die Design-Portfolios. Das sind Dinge, die normalerweise nicht zugänglich sind und die man nicht oft zu sehen bekommt. Ich glaube, weder die Designer noch die Marken haben jemals daran gedacht, sie einem größeren Publikum zu zeigen. Früher hat man vielleicht einen Katalog gedruckt, musste ihn aber redigieren und war sehr vorsichtig mit dem, was man veröffentlichte. Ein Großteil des Materials blieb ungenutzt zurück und wurde irgendwo eingelagert.

Chase: Wenn man die Outdoor-Branche mit der Modebranche vergleicht und sich ansieht, wie Modehäuser arbeiten, habe ich - von außen betrachtet - den Eindruck, dass Modehäuser um die Bedeutung ihres Backkatalogs wissen. Sie sind sich der Bedeutung ihrer Geschichte und ihres Erbes bewusst. Es sieht so aus, als würden sie es ernst nehmen. Im Gegensatz dazu nimmt die Outdoor-Branche das Thema nicht so ernst, und die Branche scheint sich selbst nicht so etabliert oder erwachsen zu fühlen, obwohl sie das eigentlich sollte. Denn sie ist es! Outdoor ist eine globale Branche, und ich glaube, solch ein Archiv hilft ihr dabei, ihr Erbe und ihre Geschichte besser wahrzunehmen. Es gibt Marken, die 50 oder 100 Jahre alt sind und eine lange Geschichte und Tradition haben. Trotzdem hat man immer das Gefühl, dass diese Branche noch sehr jung und voller Startups ist, in der immer wieder „Dirtbags“ auftauchen und ihren eigenen Weg gehen und etwas nur für sich selbst schaffen. Mit der zunehmenden Globalisierung der Branche hat man jedoch begonnen, auch zurückzublicken und zu erkennen, dass wir über eine sehr traditionsreiche Geschichte und einen reichhaltigen Backkatalog verfügen.

Nur: Wir sehen, dass immer mehr Unternehmen ein starkes Bewusstsein für ihre Tradition entwickeln und dieses zunehmend für sich nutzen. Im Bereich Mode und Luxus haben die Marken durchaus verstanden, wie wertvoll ihre Tradition ist. Betrachtet man große Akteure wie Hermès oder Louis Vuitton, stellt man fest, dass diese zu Beginn ihrer Geschichte keine Traditionsmarken waren, sondern einfach nur neu. Neue Marken müssen auf Innovationen setzen, die meist aus gesellschaftlichen Trends hervorgehen. Hermès war ein innovatives Unternehmen, das Taschen für das Reiten herstellte, da dies damals eine gängige Fortbewegungsart war. Das Gleiche gilt für Vuitton. Die große Innovation dieser Marke waren Koffer für das Reisen mit der Eisenbahn, denn das war damals modern und innovativ. Diese Unternehmen gibt es schon so lange, dass all dies nur noch historische Bedeutung hat. Mir ist jedoch klar geworden, dass mich vor allem dieser anfängliche Innovationsgeist interessiert. In der heutigen Gesellschaft und Kultur ist spürbar, dass sich immer mehr Menschen zur Natur hingezogen fühlen. Zwischen Wildnis und urbanem Leben gibt es eine Wechselwirkung, und die Menschen sind heute mehr denn je daran interessiert, die Natur zu erleben. Eine Technologie, die diese Verbindung möglich macht und in unserem Leben immer wichtiger wird, ist die Entwicklung von innovativen Stoffen. Wärmende und regenfeste Bekleidung erlaubt es den Menschen, sich länger in der Natur aufzuhalten - und das mit mehr Komfort. In hundert Jahren könnten die heute innovativen Unternehmen die neuen Traditions- und Luxusmarken sein. Ich glaube jedenfalls, dass dieser anfängliche Innovationsgeist entscheidend ist, denn er macht die Marke zu dem, was sie ist.

Chase: Das ist in meinen Augen ein wichtiger Punkt für alle, die in die Branche einsteigen oder ihre eigene Marke gründen möchten. Wie kann man sich bei einem derartigen Getöse und Überangebot an neuen Start-up-Marken von der Masse abheben? Das Zauberwort ist Innovation, da sie den Unterschied ausmacht. Wenn man sich die Outdoor-Marken ansieht, die in unserem Archiv vertreten sind, lässt sich deren Erfolg wohl auf ein und denselben Faktor zurückführen: eine innovative Idee, die das Unternehmen geprägt hat - wie zum Beispiel die Daunenjacken von Eddie Bauer.

Nur: Genau.

Chase: Daunen waren das Alleinstellungsmerkmal, das Eddie Bauer auszeichnete. Oder die Zelte von Moss. Es gab es viele Firstzelte und geradlinige Zeltdesigns, bis Bill Moss seinen berühmten Satz sagte, dass es in der Natur keine geraden Linien gibt. Deshalb waren alle seine Zeltkonstruktionen gewölbt oder rund, was den eigentlichen Durchbruch bedeutete. Und dann gibt es noch Warmlite, ein eher unbekanntes Unternehmen, das nicht viele Menschen kennen, aber dessen Geschichte ähnlich verlief: Jack Stevenson kannte sich als Luft- und Raumfahrtingenieur mit Aerodynamik und Materialeigenschaften sehr gut aus und entwickelte flexiblere Gestänge, aus denen die für die Marke typischen Tunnelzelte entstanden. Ich stimme Dir also vollkommen zu.

Nur: Jede Marke, die an Zugkraft gewinnt, hat eine Daseinsberechtigung - und die beruht in der Regel auf einer neuen Idee. Ich glaube, die größte Herausforderung besteht darin, immer wieder neue Ideen zu entwickeln. Als ich bei Goldwin anfing, haben wir zunächst das Goldwin-Archiv gesichtet, um zu verstehen, woher die Marke kommt. Was hat sie von Anfang an geprägt? Wir haben jedoch nicht nur zurück-, sondern auch nach vorne geschaut und versucht, den ursprünglichen Ansatz zu respektieren, ohne ihn eins zu eins zu übernehmen. Wenn man den ursprünglichen Ansatz verstanden hat und dessen Philosophie folgt, kann etwas völlig anderes entstehen, das trotzdem zur Marke oder zu ihrer Vorgehensweise passt. So entsteht eine Art System. Wir müssen nicht immer wieder dieselbe Idee aufgreifen oder etwas kopieren. Wenn wir uns stattdessen im Archiv umsehen, können wir zum Beispiel sagen: „Oh, da war diese Jacke mit dieser besonderen Form. Das ist interessant. Wollen wir das genauso machen, oder ist da etwas, das uns zu etwas völlig anderem inspiriert?“ Das ist das eigentlich Spannende, wenn man sich die Skizzenbücher und Entwürfe in Deinem Archiv ansieht. Ein fertiges Produkt zu sehen, ist eine Sache. Zu verstehen, wie es entstanden ist, ist etwas ganz anderes. Welche Skizzen haben die Designer gemacht? Welche Bilder und Anregungen haben sie in ihren Notizbüchern festgehalten?

Chase: Ich glaube, das ist eine wichtige Lehre für den Umgang mit dem Archiv und der Geschichte einer Marke. Die meisten Leute denken sofort an die Neuauflage eines Entwurfs, was durchaus seinen Reiz haben kann, keine Frage. Interessanter finde ich aber Deinen Ansatz, einen größeren Blickwinkel einzunehmen und die Werte und Prozesse einer Marke in die Überlegungen einzubeziehen, um zu verstehen, wie sich diese in die Gegenwart übertragen lassen. Das gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen, die man gewinnen kann, wenn man sich mit der Geschichte eines Unternehmens beschäftigt.

Nur: Ganz genau. Diese Prozesse lassen sich durchgängig beobachten. Was bei vielen dieser Marken besonders auffällt, ist, dass sie sich nie mit dem fertigen Produkt zufriedengegeben haben. Sei es in ihren Katalogen, Zeitschriftenanzeigen oder den früheren handgezeichneten Entwürfen - die Sorgfalt und Hingabe, mit der sie ihre Arbeit präsentieren, ist beeindruckend. Das sollte uns daran erinnern, dass es nicht ausreicht, allein ein gutes, innovatives und hochwertiges Produkt herzustellen, das gut funktioniert. Es ist genauso wichtig, viel Mühe in die Präsentation zu stecken, damit die Bilder begeistern, das Layout Aufmerksamkeit erregt und deutlich wird, dass mit großer Sorgfalt gearbeitet wurde. All das muss berücksichtigt werden.

Chase: Die Lehre, die wir daraus ziehen können, ist, dass handwerkliches Können wichtig ist. Wie zum Beispiel die legendär makellose Handschrift und die wunderschönen Zeichnungen von Steve McDonald. Ich kann mir vorstellen, dass sich die Studierenden, wenn sie das sehen, heillos überfordert fühlen. Allerdings wird das heute auch nicht mehr unbedingt von ihnen verlangt. Sie müssen keine übermäßig ausgefeilten Entwürfe mit der Hand zeichnen. Meiner Meinung nach sollten sie vielmehr lernen, unabhängig vom Medium, in dem sie gestalten, immer mit demselben Maß an Sorgfalt, Hingabe und handwerklichem Können an ihre Arbeit heranzugehen wie Steve. Es geht um den Prozess.

Nur: Ja, das gilt sowohl für die ersten Entwürfe eines Produkts als auch für die finalen Bilder einer Kampagne. Es ist ein Handwerk, und der Schlüssel zur Perfektion liegt darin, den Prozess zu respektieren.

Chase: Ein weiterer wichtiger Aspekt, den uns das Archiv lehrt, ist, dass wir die Dinge manchmal etwas langsamer angehen lassen sollten, wie wir das im Zusammenhang mit den Themen Social Media und Inspiration schon angesprochen haben. Wir könnten alle Bilder in unserem Archiv einscannen und dann online stellen. Doch ich finde es viel bereichernder, hierherzukommen und selbst durch die Seiten zu blättern. Der Kontext zählt. Wenn alles auf ein einziges Bild reduziert wird, das auf Instagram erscheint, geht viel verloren. Man sieht dann nicht, was neben diesem Bild abgebildet war. Es ist wie beim Blättern in einer Zeitschrift, wenn neben einer Produktvorstellung oder einem Ausrüstungstest eine Anzeige zu sehen ist. Der Kontext ist wichtig. Man erhält ihn, wenn man sich bei der Recherche Zeit nimmt. Nur so kann man auch wirklich etwas Neues entdecken.

Nur: Dem kann ich nur beipflichten. Es ist im Prinzip dasselbe, ob man in den Wald oder die Berge geht, um die Farbenpracht der Natur zu entdecken, oder ob man hierherkommt, um Ordner und Kisten voller Bilder und Drucksachen durchzusehen. Wenn man sich auf eine Recherchereise begibt und gezielt nach etwas sucht, schafft man einen Fokus. So habe ich es während meiner gesamten Berufstätigkeit gemacht. Ich halte inne, verlasse das Büro oder das Atelier und konzentriere mich darauf, Anregungen und Ideen zu finden.

Chase: Es geht um bewusstes Handeln. Darum, die gewohnte Umgebung zu verlassen und Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln. Das gehört meines Erachtens zu dieser Reise dazu.